Mai 11, 2020

Pandemie und Geschlechtergerechtigkeit (Mai 2020)

„MEHR SCHWEDEN WAGEN? JA, ABER BITTE DANN AUCH BEI DER GLEICHBERECHTIGUNG ! Millionen berufstätige Frauen, ob Friseurinnen, Seniorpartnerinnen, Aufsichtsrätinnen, die sich in einer einigermaßen gleichberechtigten Gesellschaft  (und Beziehung) wähnten, bekommen jetzt vorgeführt, wo sie wirklich stehen: am Herd und im Kinderzimmer.“


Auf der Stadtverordnetenversammlung im Mai 2020, an der wegen der Pandemie nur 21 Stadtverordnete teilnehmen konnten, wurde nur ein Thema debattiert: CORONA und die Folgen. Vor mir haben zwölf Redende (!) gesprochen, genauer gesagt 10 Redner und 2 Rednerinnen. Keine und keiner hat dabei den völligen Rollback und die anhaltende Schieflage in der Geschlechterfrage, den unmöglichen Triathlon von Homeoffice, Homeschooling und Homework thematisiert. Alles war Thema, manche haben sich über URBI und ORBI mokiert. Ich habe dennoch über die Stadt, die Pandemie und DIE HÄLFTE DES ERDKREISES gesprochen.

Hier mein Redemanuskript, die Abschrift liegt noch nicht vor.

Herr Vorsteher, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen

in der FAZ vom Montag las ich die Beschreibung eines Landes, das

-ich zitiere mit Einverständnis des Vorstehers-

„ nicht nur stark von seiner exportorientierten Wirtschaft abhängt, sondern auch davon, dass Väter und Mütter gleichberechtigt arbeiten.“

Es hätte Deutschland gemeint sein können…

In Frankfurt z.B. beträgt der Frauenanteil an den sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen 44,8 %. In einigen der jetzt als systemrelevant identifizierten Branchen liegt er bei bei 70%.

80 % der Kinder über 3 Jahren sind in KITA Betreuung und zwar zu 80% in Ganztagsplätzen.

Die Maßnahmen aber, die in Bund und Ländern vereinbart wurden, die ich insgesamt nicht kritisiere, suggerieren, wir würden in einem Hausfrauenland leben.

Millionen berufstätige Frauen, ob Friseurinnen, Seniorpartnerinnen, Aufsichtsrätinnen, die sich in einer einigermaßen gleichberechtigten Gesellschaft  (und Beziehung) wähnten, bekommen jetzt vorgeführt, wo sie wirklich stehen: nämlich am Herd und im Kinderzimmer.

Kinder, Küche und Corona titelte der Tagesspiegel.

Dass Care – Arbeit, die bezahlte und unbezahlte, gesellschaftlich geringgeschätzt wird, war vielen schon schmerzhaft bewusst – und der Applaus für Pflegekräfte ist doch im Grunde genauso peinlich unangemessen wie der Blumenstrauß von schuldbewussten Ehemännern.

Dass aber auch berufliche Kompetenzen und Leistungen, der Anteil der Frauen an der Produktivität dieses Landes so ignoriert werden, macht viele Frauen wütend.

Uns Grüne auch.

Es muss allen klar sein: Konjunkturprogramme zur Ankurbelung der Wirtschaft ohne gleichzeitige Regelungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie, funktionieren nicht.

Sie sind nach unserer festen Überzeugung genauso wenig wirksam und nachhaltig wie Konjunkturprogramme ohne Klimaschutzkomponente.

Nichts wird in dieser Krise so weitergehen wie bisher.

Investitionen müssen vor allem zukunftstauglich sein.

Wir muten den Kindern nicht nur Ausgangssperren, einen beschädigten Planeten, sondern auch eine gewaltige Schuldenlast zu. Strohfeuer wie Abwrackprämien können wir uns deshalb nicht leisten.

Auch einen Rückfall bei Geschlechtergerechtigkeit werden wir nicht akzeptieren. Es ist doch fatal, wenn Universitäten berichten, dass seit Beginn der Pandemie keine Veröffentlichungen mehr von Frauen eingehen, bei männlichen Wissenschaftlern aber eine Steigerung  von 50% zu erkennen ist.

Wir kritisieren nicht, dass zunächst Kitas und Schulen geschlossen wurden. Aber es ist völlig inakzeptabel, dass nicht zugleich das Dilemma für die Familien benannt und flankierende Maßnahmen gesetzlich geregelt  wurden, wie z.B. besonderer Kündigungsschutz, gesplittetes Pandemie- Elterngeld, das Recht auf Arbeitszeitreduzierung mit Rentenausgleich.

Kinderbetreuung ist nicht nur Privatsache.

Sie sollte von der Politik mit derselben Leidenschaft und demselben Ressourceneinsatz verfolgt werden, wie der Start der Bundesliga.

Es ist gut, dass es im Juni losgeht.

Wir haben gerade in Frankfurt einen hohen Bedarf.

Wir Grüne haben die Erwartung, dass der Magistrat alles daran setzt, die sogenannte Notfallbetreuung mit Kreativität und Umsicht maximal auszuschöpfen.

Und wir formulieren die Erwartung, dass die Situation von Ein-Elternfamilien von Beginn an mitgedacht wird. Deren Chancen auf eigenständige Existenzsicherung müssen in besonderem Maße gewahrt, Kinderarmut verhindert werden.

Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Digitalisierung, Abhängigkeit von Märkten, Gesundheitsversorgung, Bezahlung von Careberufen, Bildungsgerechtigkeit, Generationengerechtigkeit, Kinderrechte, Geschlechtergerechtigkeit,

die Pandemie wirft auf die Defizite in diesen Bereichen ein grelles Licht, und sie wirkt teilweise wie ein Verstärker.

Das gilt auch für den Bereich Häusliche Gewalt. Die Quarantäne, die Ausgangsbeschränkungen machen aus einem Mann keinen Täter.

Aber die häusliche Enge, die stärkere Kontrollsituation führen, das sagen jedenfalls alle Studien, zu einer erheblichen Steigerung der Delikte in Familien, in denen häusliche Gewalt angelegt ist.

Das Frauendezernat hat daher schon vor Wochen zusammen mit dem Sozialdezernat, den Beratungsstellen, Frauenhäusern und der Polizei über zusätzliche Maßnahmen beraten.

Anzeigenkampagnen und weitere Informationen, um Frauen auf Hilfemöglichkeiten hinzuweisen, wurden geschaltet. Es wurden zusätzliche betreute Unterbringungsmöglichkeiten und Wohnraum geschaffen, um Frauenhausplätze frei zu machen.

Herzlichen Dank dafür an die beiden Dezernentinnen.

Dabei war es gut zu erfahren, dass die Frankfurter Polizei konsequent nach dem Grundsatz, „wer schlägt, geht“, verfährt. So können Frauen und Kinder in der Wohnung und der vertrauten Umgebung verbleiben.

Wir finden es gut, dass die FDP diesen Antrag gestellt hat und auch die SPD sich mit einer Pressemeldung des Themas angenommen hat.  Aber das Problem ist lange erkannt und wird erfolgreich bearbeitet- so wie es die Fachstellen empfohlen haben und so geräuschlos, wie es die Suche nach diesen Unterkünften verlangt.

Ich stimme dennoch meinen Vorrednern zu, dass wir froh sein können in Frankfurt zu leben.

Noch mehr bin ich froh, dass wir eine Regierungschefin haben, die ebenso uneitel wie rational Entscheidungen trifft.

 

Aber: „ mehr Schweden wagen“ titelt heute die FAZ. Ja, gern, aber dann bitte auch bei der Gleichstellung.

Vielen Dank